Explosionsartige Krankheitswelle, Land des Blaumachens, arbeitsmĂĽde Deutsche? Was steckt wirklich hinter dem Krankheitsboom, und was ist jetzt zu tun?
Vermutlich habt ihr bereits davon gehört. Cawa Younosi schrieb die Tage stirnrunzelnd, dass Arbeitnehmer:innen in Deutschland neuerdings wieder als faule Hunde dargestellt werden, die sich rücksichtslos krankmelden und den Kolleg:innen aoszial auf der Tasche liegen. Nur wenig unverblümter erklärte das Daimler-CEO Ola Kaellenius ebenso wie Allianz-CEO Oliver Bäte. Auch auf LinkedIn hatten die üblichen Spin Doctors natürlich Schaum vor dem Mund. Der „Spiegel“ und das „Handelsblatt“ berichteten ebenfalls prominent. Bald können die Personalabteilungen wieder umbenannt werden. „People & Organization“ war gestern. New Work ist out. Endlich wieder Human Capital Management. The Party is over. Doch was ist dran am Krankheitsboom?
Das Phänomen hat zwei Perspektiven:
👉 A) Die Krankheitstage sind seit 2022 explodiert.
👉 B) In Deutschland ist der Krankenstand höher als in anderen Ländern.
Ein Blick auf die nackten Zahlen scheint beides zu bestätigen.
Seit 2022 ist ein steiler Anstieg zu beobachten. Woran liegt das? Dankenswerterweise hat das ZEW den Befund sinnvoll eingeordnet. Die beiden wichtigsten Grafiken hab ich mal eingefĂĽgt und den Link zur Studie in den Anhang gepackt.
Was sieht man? Na ja, das sind korrelative Daten. Aber der drastische Anstieg kommt ziemlich offensichtlich durch Atemwegserkrankungen zustande. Als Folge der Pandemie wurde nämlich das Berichtswesen modernisiert. Früher waren Meldungen optional und mussten eigeninitiativ getätigt werden. Heute werden Krankmeldungen elektronisch erfasst und automatisch weitergeleitet.
Und siehe da: Plötzlich stehen mehr Fehlzeiten in der Statistik! Das liegt aber nicht an kranken Menschen, sondern an besseren Daten. Digitalisierung halt. Wer nur die Korrelation sieht, denkt sicher: Menschenskinder, im Laufe der Zeit werden die Deutschen aber immer häufiger krank. Dabei liegt es lediglich an einem veränderten Meldewesen. Korrelation ja, Kausalität nein.
Nun zum zweiten Punkt: Ist in Deutschland der Krankenstand wirklich höher als in anderen Ländern? Stimmt das? Sind wir wirklich wehleidiger, fauler, nutzloser? Kurz: Nope. Selbst wenn „Daten“ das suggerieren. Hier die zentralen Punkte.Â
Alter ist ein Krankheitsturbo. Wir leben in einer alternden Gesellschaft. Laut einer beklemmend schönen Hochrechnung steigen die Fehltage in Deutschland bis 2050 demografiebedingt um 5 %. Nix Nationalität, nur Alter. Obendrein: Eine höhere Beschäftigungsquote bedeutet mehr anfällige Menschen im Job, die sonst schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt hätten. Logisch, oder? Fachkräftemangel, ick hör Dir trapsen. Beides wirkt additiv, eh klar.
Jedes Land hat eigene Datenquellen, eigene Erhebungsmethoden und eigene Regeln. Mal melden Krankenkassen, mal Arbeitgeber, mal Dritte. Andere Länder tracken weniger. Es gibt komplett unterschiedliche Systeme, z.B. Kontingente für Ausfalltage, bei deren Überschreitung erst gemeldet wird. Da kommt dann halt weniger bei rum. Und Deutschland? Hat neben dem neuen Digitalsystem mit Automatikmeldung auch noch ein hohes Bedürfnis nach Unsicherheitsvermeidung. Gibt’s hierzulande allein kulturbedingt mehr Meldungen? Davon würd ich ausgehen – ausnahmsweise hypothetisch und ohne empirische Unterfütterung (falls jemand was kennt, gern her damit).
Unzählige Faktoren spielen da rein (siehe Grafik). Nationalität? Eher eine Randnotiz. Und die wenigen internationalen Vergleiche? Keine groĂźen Unterschiede. Japan mal ausgenommen, die sind dem Anschein nach schon krasser drauf.Â
Organisationen müssen Gegensätze balancieren. Nur „social support“ führt in den Country Club, nur „performance management“ in den Burnout. Beides zusammen ist wichtig für Erfolg. Birkinshaw & Gibson liefern dazu Daten und Modell.
100% Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ab Tag 1 klingt nett, hat aber empirisch mehr Ausfälle zur Folge. Nachweislich. Da hat der Oliver Bäte womöglich durchaus 'nen Punkt. Viele Nachbarländer sind weniger großzügig. Da gibt’s 80% oder gar nix oder den Karenztag.
Die Systemtheorie skandiert gerne die Parole: „Die Verhältnisse erzeugen das Verhalten. Nicht umgekehrt“. Die Psychologie drückt denselben Sachverhalt präziser, dafür aber sperriger aus – fundamentaler Attributionsfehler. Heißt: wir schauen zu häufig auf den Menschen und zu wenig aufs System – und in diesem Fall könnte das Anreizsystem tatsächlich eine Stellschraube sein.
Jedoch: die Einführung eines Karenztags, hat ihrerseits (negative) Folgeerscheinungen, etwa mehr Ansteckungen im Betrieb, Folgeschäden durch nicht auskurierte Krankheiten oder Motivationsverluste durch wahrgenommenes Misstrauen.
Die Annahme von Monokausalität (Karenztag reduziert Krankentage) ist naiv bei hoher Systemkomplexität. Wir brauchen Daten. Sinnvoll wäre ein Quasiexperiment, in dem mögliche Regeln gegeneinander getestet werden. Niemand kann die Ergebnisse vorhersehen. Niemand. Technisch ist das möglich, für die Methoden gabs 2022 den Nobelpreis.
Das kam noch abschließend als Argument von Herrn Bäte: „Deutsche arbeiten extrem wenig im OECD-Vergleich.“ Hört man oft. Stimmt aber nicht. Die Arbeitsstunden pro Person sind in Deutschland nicht niedriger als z.B. in Griechenland. Sie sind höher.
Also, was können wir insgesamt tun für den sehr wahrscheinlichen Fall, dass „die Deutschen“ doch nicht alle faul, dekadent und arbeitsscheu geworden sind? Wie können wir krankheitsbedingte Ausfalltage reduzieren?
👉 Organisation & Führung? Falls Ihr Euch Begleitung wünscht, sagt gerne Bescheid. Dann schauen wir gemeinsam drauf.
Quellen & Links